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PuttBill

beobachtungen am übergang

16 | 11 | 1999 | Großauheimer Kleinkunstabend

NATURBEOBACHTUNGEN Am Großauheimer Bahnübergang

Prolog:„Grzimek“ (mit Affe auf den Knien)
Guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Sie, meine treuen Zuschauer, draußen an den Empfängern und hier beisammen im gemütlichen Rund wissen es: Ich bemühe mich immer, meine Naturbeobachtungen nicht in einem künstlichen Reservat, in einem sterilen Labor oder in einem Zoo anzustellen. Nein: Sie finden mich immer dort, wo sich interessante Spezies und bemerkenswerte Kreaturen unter den Lebewesen dieser wunderbaren Erde völlig ungezwungen, frei und in ihren natürlichen Lebensräumen bewegen. Heute nun führe ich sie in einen Teil dieser Erde, der zwar vielen bekannt, doch noch weitgehend unerforscht geblieben ist. Wir müssen nicht einmal weit reisen, um an das Ziel unserer heutigen Beobachtungen zu kommen. Wir finden hier auf einem winzigen Flecken heimtückischen Urwald, erbarmungslose Wüste, arktische Kälte und glühende Tropen im Neben- und Nacheinander. Gattungen jeglicher Größe und Temperamente, Säugetiere aller evolutionärer Entwicklungsstufen und jeden Alters treffen hier aufeinander, sind Mosaiksteinchen im großen, unbegreiflichen Gesamtkunstwerk unseres Schöpfers. Bitte folgen Sie mir nun in das Biotop direkt vor unserer Haustür, starten sie mit mir eine Expedition zu einem Großauheimer Bahnübergang!
BimBamBimBam
Rentner: (Hut,mit Stock)
Da, zu spät. Ja, wenn mer nemmer so laafe kann... früher hab ichs nach’m erste Bimmel noch immer rüwwergeschafft. Unn üwwerhaupt: bei der Reichsbahn gabs das nicht. Da hat de Eisebähner erst dann die Schranke runnergelasse,wenn er de Qualm aussem Lokomotiveschornstein rieche konnt. Awwer sowas lerne die Herrn Schrankenbahner ja heut net mehr. Da kommt nach dem Zug noch en Geschezug und wenn der vorbei iss kommt gleich noch einer. Dafür hawwe se Geld!
Jogger:(Kappe auf, handtuch um Hals, hechelt, schnauft, läuft auf der Stelle)
Rentner: Junger Mann, sie wern ach noch ruhischer. Wärn se e bisje schneller gerannt, wärn se jetzt uff de anner Seit und würde uns net hier die Luft wegatme. Übrigens: Hawwe se schon gehört: die wolle ja jetzt sogar die Üwwergäng besteuern! Einmal rüwwer kost e Mark. Die Auheimer kriesche e Jahreskart fürn Hunnerter, unn wir Rentner hawwe am Sonntag freien Übergang. Des muss mer sich emal vorstelle!
 Kid: (Kappe verkehrt)  Alles nur für euer Rente Oppa!
Rentner: Junger Mann, sind sie mal still, außerdem: Ihne Ihrn Hut sitzt verkehrt rumm uffm Kopp! - Die heutige Jugend: zu dumm zum Kapp uffsetze! Wo soll das enden! Alles wird immer schleechter statt besser. - Awwer mit uns kann mers ja mache. Ich sach immer: da hilft nur eine Luftbrücke. In Berlin gings ja auch, dafür wars Geld da!
Aber mir sind dene da obe ja ganz egal. Mir dürfe hier versauern. Hier könnte se ja wenigstens mal e Bank hinstelle - aber für uns mache se ja nix. Bestimmt fängts aach noch gleich a zu reechne. - Unn daham steht die Supp uffm Herd!
Kid: (Kappe verkehrt, Skateboard, Walkmanknopf im Ohr)
BummBummBumm-Scat-Rap
ICE bringt’s nicht.
Der macht nur bschschschtt.
Am geilsten sind die Dieselloks, ey.
Tolle Teile.
Echt coole Kisten.
Die hamm den Beat
Die hamm den Rhythmus.
UmdadadaUmdadada,
RaDaDongRaDaDong.
Booaah.
Ultimativ.
Das geht voll inn Bauch, ey.
Voll heiß, so ein Bahnübergang:
Toller Kick, gestern:
Das kam sogar im HR3:
(TalüTalüTü)
„Zugstau zwischen Auheim und Hanau!
Keine Ausweichempfehlung!“
Und alles nur wegen mir:
Ich bin mit dem Skateboard in die Schiene gekommen, ey.
Das ging voll ab!
Hab erst im Hanauer Hauptbahnhof ne Weiche gefunden um  wieder zurückzufahren.
Autofahrer   (Handy, Lenkrad, Hupe Trööööt / Bremse Quiiieeetsch!!)
Mist! Mist! Mist! Mist!
Immer nur mir passiert das, ausgerechnet heute!
Da platzen alle Termine. Und das bei meinem Stundenlohn!
Fingertrommeln
Ich werde die Bahn verklagen. Das kostet mich nicht nur Tausende Mark im Jahr, das kostet mich, was ich mir nirgendwo kaufen kann:
DAS KOSTET MICH ZEIT!
Handy klingelt:
JA,WAS IST??
Oh, Schatz, stoppe die Mikrowelle, mich blockiert so ein ordinäres Massenverkehrsmittel.
- Warum ich mir das gefallen lasse? -
Ich lasse mir nie etwas gefallen!
Die wissen ja gar nicht, wen sie hier aufhalten!
Morgen sag ich’s meinem Anwalt.
Aber mich stoppen die nicht, mich nicht!!
Ich werde das auf der Autobahn wieder rausholen.
Ja, ich weiß: ich bin toll.
Du liebst mich? - Ich mich auch!
Wenn das hier vorbei ist, bin ich in 12einalb Minuten bei dir.
Und dann gibt’s Champagner! Die Bahn zahlt!
Tschaui.
Jogger:(Kappe auf, Handtuch um Hals, hechelt, schnauft, läuft auf der Stelle)
Kind mit Mutter:  (Schnuller umhängen)
Ach Mutter, ach Mutter, ich muß dringlich einmal!
Geduld, Geduld! Halt ein, mein Kind,
in zehn Minuten zuhause wir sind!
Magistratsmitglied: (Krawatte lose gebunden)
Sie können davon ausgehen, daß das Problem der schienengleichen Bahnübergänge bei uns in kompetenten Händen liegt. Vieles ist vorstellbar: es gibt Pläne einer kombinierten Über- und Unterführung, eine Verlegung der gesamten Bahntrasse auf Stelzen wird angedacht, auch eine Fahrstuhllösung klingt reizvoll. Eine internationale Expertenkomission wird mittelfristig mit dem Verkehrsentwicklungsplan ein global angelegtes Konzept vorlegen.
Kind mit Mutter: (Schnuller)
Mama ich muß aber mal!
Beruhige dich, Halts ein, mein Kind,
in neun Minuten zuhause wir sind!
Magistratsmitglied: Das Thema mag zwar den einzelnen Bürger partiell beschäftigen. Die wahren Probleme tangieren ihn jedoch lediglich peripher. Sie verstehen aber sicher, daß wir im übergreifenden Zusammenhang planen müssen. In einem umfassenden, von unserer Stadt bei einem renommierten Expertenbüro in Auftrag gegebenen Studienpapier befassen sich die besten Köpfe Europas mit der Lösung der Misere.
Rentner: der maant: mir sinn zu blöd dezu!
Wir denken eventuell daran, zur Linderung der größten Not -und noch vor den Wahlen- ein Zeichen zu setzen. Kopfsteinbepflasterung im direkten Aufenthaltsbereich der Wartenden soll das Verweilen dort zu einem auch städtebaulich anregenden Genuß machen.
Rentner: da derf die Käthe awwer net die Stöckelschuh anziehe!
Die Bevölkerung macht sich keine Vorstellungen, wie in den Ausschüssen  um Entscheidungen gerungen wird! 
Rentner: Aber unsere Bahnübergäng hamm mer doch schon hunnert Jahr!
- Eben, guter Mann, eben! Daran sehen Sie doch, daß man das Problem nicht so mirnichtsdirnichts klären kann. Da muß so vieles bedacht werden! Einen ersten Teilerfolg darf ich ihnen heute schon vorab mitteilen: Um im Interesse aller Bürger eine durchgängige Volksnähe dauerhaft sicherzustellen und die Magistratsmitglieder nicht durch leidige Wartezeiten von ihren Wählern zu trennen, erhält der städtische Fuhrpark demnächst einen Hubschrauber.
Hundebesitzer: (Hundekette, Schafblöke, Wackeldackel,Sonnenbrille)
(Blök)
Putt Bill, komm her! 
Aus! So ist brav!
Der tut nix, der will nur spielen, der meints nicht so.
Ui,Ui,Ui, das hat er ja noch nie gemacht,
sonst ist der wie ein Lamm.
Putt Bill, AUS!
so kenne ich ihn gar nicht, sie müssen ihn provoagressiviziert haben
sie dürfen ja auch keine Jacke aus Schweinsleder anziehen,
das riecht er doch, das müssen sie verstehen,
das weckt nur seine Urinstinkte.
Da kriegt er natürlich Appetit!
Merken Sie sich das und nötigen Sie in Zukunft meinen Hund nicht so.
Rentner:  Hallo sie, ihr Hund hat da was gemacht!
Hoi Hoi!Hoi! - Ist was?
Ganz ruhig, Opa. Ganz ruhig. Das ist doch garnix..
Mein Putt Bill ist steuerfrei - der schafft die schärfste Abgasnorm!
Das ist eine rein ökologische Tretmine. Biologisch voll abbaubar.
Was Gesünderes gibt es überhaupt nicht!
Da sind keine Giftstoffe drin, der kriegt nur Haferflocken und Klosterfrau Melissengeist.
Niemals Fleisch. Niemals!
Da bin ich konsequent, das muß er sich schon selber jagen.
Bei mir gilt die Parole: Ein Herz für Straßenkehrer!
Wir machen die Stadtreinigung nicht arbeitslos.
Und außerdem kenn’ ich jemand, der Hundesteuer zahlt.
.Gell, Putt Bill?  (Blök)
Kind mit Mutter:  (Schnuller)
Mama ich muß mal ganz dringend! 
Bleib tapfer und Halt ein, mein Kind,
in acht Minuten zuhause wir sind!
ZenGeist: (Hände gefaltet, HunderwasserKäppchen)
Ommmmmmmm
Grauenhaft, dieses monotone Rotweissrotweiss der Sperrrohre. Da muß Farbe hinein! Scheußlich, diese Statik, diese Symbolik. Wo bleibt das Runde, das Weiche? Hier wird der Mensch, hier wird die Natur geknechtet. Die Technik macht sich den Menschen Untertan und versklavt ihn. Fängt ihn in der Zeitfalle, umgibt ihn mit fremden Klängen, Bildern und Räumen. Und haben sich unsere langsamen, bedächtigen Hirnströme endlich der Situation des erzwungenen Innehaltens angepaßt und wollen diese neue Erfahrung kreativ umsetzen, wird die statische Lage wieder durch Hektik und Bewegung abgelöst. Urplötzlich öffnen sich Schranken und die graue Flut des Alltags bricht wieder über uns herein. Welch eine Behinderung unserer schöpferischen Fähigkeiten! Daher fordern wir in einem Aufruf alle freien Geister der Welt auf: Schafft eine Woche des Einhaltens, gebt dem Geist Raum und Zeit zur Entwicklung! Selbst beim Bhagwan in Poona gibt es sowas nicht.
So schauen wir doch nur: Das helle „Bim-Bam“ der sich senkenden Schranken ruft die Gemeinde zusammen, läßt die Menschen in ihrer Tageshetze innehalten. Nutzen wir diese Möglichkeiten!
Kind mit Mutter: (Schnuller)
Mama ich muß ganz ganz doll! 
-Erlösung naht, Halt ein, mein Kind,
in sieben Minuten zuhause wir sind!
ZenGeist: Schließt die Bahnübergänge für acht Tage und ihr werdet sehen: dies wird ein gewaltiger Schritt für die Menschheit sein! Wir Denker, Philosophen und Künstler werden wohlgefällig dem Treiben an den Schienenkreuzungen zusehen. Werden Wasserfarben, Malkreide und Staffeleien bereitstellen. Die Kunst wird leben! Die vermeintliche Fesselung der Bewegung verwandelt sich in die grenzenlose Freiheit des Geistes! Schaffen wir mit diesem Ort der Reibung zwischen Mensch und Technik einen Platz innerer Einkehr und der Meditation! Nutzen wir diese Chance zu Ruhe, Besinnung und Frieden!
So soll es sein, so wird es sein. Ommmmm.
Lokomotivenpfiff
Rentner:Da kommt er ja! - Ojeh, die Supp!
Kid:  RaDaDaDong- Geil ey!
Jogger: hechelt, schnauft, läuft auf der Stelle
Autofahrer: (Lenkrad) (Hupe) Brrrrrummmmm
Kind: (Schnuller) (rollt erleichtert die Augen, stöhnt)
ZenGeist: (Käppchen, Hände gefaltet)
Oh, welch ein Beben,
welch ein Erleben!
Hundebesitzer: Faß, Putt Bill, Fang den Zug!
Magistratsmitglied: Sehen Sie, wie ich es Ihnen gesagt habe. Wir halten unsere Versprechen!
Kind mit Mutter:
Du bist befreit, erlöst, mein Kind,
jetzt wirklich gleich zu hause wir sind
(Schnuller)
---Wieso, ich muß doch gar nicht mehr!
Zug kommt
Schranke öffnet BimBamBimBam
Epilog:  „Grzimek“
Ja, meine Damen und Herren,
Fünf Minuten täglich in Großauheim, und Sie haben alles erlebt. Wie unter dem Mikroskop zeigt sich hier die große Welt. Fremde Menschen treffen willkürlich aufeinander, haben für den Bruchteil eines Lebens eine Gemeinsamkeit, bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Was aber bleibt, wenn sich die Schranken öffnen? Sie werden den Schirmchen einer Pusteblume gleich  verweht in alle Himmelsrichtungen. Zurück bleibt ein leerer Platz. Nichts verweist mehr auf die Dialoge, die hier getauscht wurden. Kein Hinweis mehr auf die Dramen, die sich hier abspielten. Auf Die Herzen die hier schlugen. Mag sein, daß inferner Zukunft Archäologen an dieser Stelle Ausgrabungen vornehmen werden. Was werden Sie finden? versteinerte Zigarettenkippen? Gummireste von Sportwagenreifen, die bei einer Vollbremsung vor geschlossener Schranke ihr Leben aushauchten? Halbvermoderte Flugblätter eines Pizzaschnelldienstes, der bereits drei Tage nach Eröffnung und 38 Schrankenwartezeiten später Konkurs anmelden mußte? Unsere Nachfahren werden uns beneiden. Da bin ich mir sicher.
Wir Glücklichen hier können es jeden Tag aufs Neue genießen. Sind wir uns dessen bewußt! Hand aufs Herz: wann waren Sie das letzte Mal am Bahnübergang? Ganz egal: das ist zu wenig. Denken sie auch nicht nur an sich: wandeln Sie mit Ihrem Liebsten zu dieser Weihestätte, geben Sie ihre Erfahrung an ihre Enkel weiter, schildern sie es ihren Geschäftspartnern in Übersee, packen Sie’s ins Internet. Die Großauheimer Bahnübergänge sind etwas wirklich Einmaliges und  Schützenswertes.
Setzen wir uns immer und überall für dern Erhalt und artgerechte Pflege ein. Denn der Lohn, der uns erwartet, ist nicht mit Gold aufzuwiegen. Vielleicht sehen wir uns ja schon morgen, wenn es wieder lieblich klingt:
BimBamBimBam

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