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Urlaub

urlaub im paradies

15 | 09 | 2003
Urlaubsgrüße
Liebe Zurückgebliebene!
Ihr könnt euch nicht vorstellen, wo in und auf aller Welt ich gelandet bin!  Ich suche ja immer das Abenteuer und bin für exotische Restposten stets zu haben. Daher reise ich grundsätzlich nur Last Minute. Besser noch: Last Second. Wie sonst kann ich noch auf überraschende Entdeckungen hoffen?
Ein Anruf beim Reisebüro meines Vertrauens und ruckzuck rollte mich die Deutsche Bahn meiner unbekannten Urlaubsbestimmung entgegen. Vorbei an mysteriösen Orten mit  beängstigenden Namen wie: Lieblos, Hüttengesäß oder gar Großkrotzenburg fand die Fahrt am zivilisierten Ufer des Mains ihr Ende. Die Stadt, in die mich mein Schicksal führte, nennt man „Großauheim“. Hier prägen einzigartige Bauwerke und eine eindrucksvolle Skyline das Bild: So gibt es drei prachtvolle Kirchen, ein gewaltiges Betonmonument (Getreidesilo) und das kleinste Hochhaus nördlich der Donau. Den Main queren drei Brücken. Zusätzlich pflegen Amerikanische Kohorten, die als Besatzungsmacht in befestigten Lagern leben, an bestimmten Tagen einen Ponton über den Strom zu schlagen. Bei dem hier herrschenden Brückenüberangebot verstehe ich das allerdings nicht. Die exotischsten Plätze findet der aufmerksame Tourist im Herzen
dieser besonderen Stadt: Großauheim steckt voller Brunnen und Zisternen. Dies ist an sich nichts Außergewöhnliches. Doch wo andernorts das Wasser sprudelt und die Gischt zischt, bleiben hier die Geysire trocken. Aus keinem der mindestens fünf hiesigen Brunnen rinnt auch nur ein Tröpfchen! So etwas Schräges hat die Welt noch nicht gesehen. Überall trockene Fontänen, Kirche an Kirche und eine Brücke nach der anderen - diese architektonischen Exklusivitäten allein würden schon ausreichen, Großauheim zu etwas ganz Besonderem zu machen. Aber hier wird noch einer draufgesetzt!
Die Großauheimer haben den ultimativen Schutz gegen Eindringlinge, Bösewichte und Feinde aller Art entwickelt. Wo anderswo ungezählte Sesterzen zum Bau eines Limes ausgeben und manches Bruttosozialprodukt im Verteidigungshaushalt verdampft, genügt hier ein bescheidenes, aber extrem wirkungsvolles System aus rot-weiß gestreiften Sperrbalken, das alle Zugangsstraßen in Nullkommanix blockieren kann. Völlig überraschend und unberechenbar schließen sich diese Schranken und machen den Ort praktisch uneinnehmbar.
Andererseits wird Großauheim so auch zu einer Mausefalle für die Bürgerschaft. Die allerdings hat ihren Frieden mit der Stadtsperre geschlossen: in der schier endlosen Wartezeit bis zur nächsten Schrankenöffnung sieht man das Volk teils im regen Gespräch miteinander, teils in tiefer Meditation versunken. Ich also erlebte diese mystischen Stellen als Orte sozialer Begegnung und innerster Einkehr. Wahrlich eine unverzichtbare und nachahmenswerte Einrichtung! In Großauheim stand sicherlich eine der Wiegen der Menschheit. Die hiesige Kultur zeigt höchstes Niveau. Dennoch wird so gut wie kein Aufhebens davon gemacht. Oh, welch leuchtende Bescheidenheit! Als vor 1200 Jahren in Berlin und Hanau noch Wisente grasten und die dortigen Ureinwohner in Felle gehüllt ihr Unwesen trieben, wußte sich selbst der kleinste Großauheimer schon anständig zu benehmen. Großauheim ist ein Hort der feinen Künste.
Derzeit wird man Zeuge eines weiteren kulturellen Highlights in dieser großartigen und doch so zurückhaltenden Stadt: St. Paul, die Mutter aller am Main liegenden Kirchen, zeigt sich komplett verpackt wie ein Kirschbaum zur Erntezeit. Christo’s Reichstagsverhüllung ist nichts dagegen! Der Auheimer August Gaul, der erste Bildhauer der Moderne, verleugnete niemals seine Herkunft. (Wohingegen die Brüder Grimm ihre Geburtsstätte Hanau schon vor dem schulpflichtigen Alter fast fluchtartig gen Steinau verließen und nimmer wiederkehrten).
Doch die derzeit machthabenden Hanauer streben immer wieder nach dem Licht, das dieser große Großauheimer wirft und erdreisten sich auf verwerfliche Weise, sich in dessen Glanz zu sonnen. So wird immer wieder versucht, Teile des Gaul'schen Tierparks, der schon seit je her in Frieden sein Futter in Großauheim fraß, in die finsteren Gemächer des Hanauer Schlosses zu entführen. Da werden gar ausgewachsene Löwinnen ihrem Heimatrudel entrissen. Pfui! Doch erlebte ich die Großauheimer Eingeborenen auch als kämpferische Freidenker und unbeugsame Zeitgenossen. Ihnen gelang es bisher stets, dem bösen, neidvollen Treiben Einhalt zu gebieten. An manchen Tagen im Jahr beharren die Großauheimer auf ihrem Wegerecht und sperren die wichtigsten Transkontinentalen Verkehrsrouten: Dann regiert und feiert zum Rochusmarkt des Gewerbevereins das Volk auf der Hauptstraße. Und zur alljährlichen Ruderregatta wird sogar der Main zum Auheimer Binnengewässer. Ihr Rückständigen zuhause: nach meiner Heimkehr werde ich ein Anderer sein. Und wenn ich es mir recht überlege, will ich gar nicht mehr zurück. Ich stelle im hiesigen Stadtladen Einreiseantrag und mag auch ein Großauheimer werden. Hier gibt es noch guten, freien Handel und eine aktive Bürgerschaft. An allen Ecken entstehen neue Siedlungen und Menschen aus aller Herren Länder fühlen sich in Großauheim wohl. Da fehle eigentlich nur noch ich. Besucht mich mal! => zurück zur auswahl

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